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Schreibkick - Im Spiegel

Hier ist meine April-Geschichte

für den "Schreibkick"

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Das Geheimnis des alten Spiegels

 

Normalerweise ist man an seinem Geburtstag glücklich. Man springt begeistert aus dem Bett, weil man sich auf diesen Tag freut. Auf viele Gäste, auf Geschenke, auf eine fröhliche Feier.

 

Nicht so Prinzessin Samira. Todtraurig saß sie am Bettrand, unschlüssig, ob sie überhaupt aufstehen sollte. Dicke Tränen kullerten aus ihren Augen, liefen ihr übers Gesicht und hinunter auf ihr helles Seidennachthemd. Sie hatte sich doch so auf ihren fünfzehnten Geburtstag gefreut! Und dann das!

 

Samira liebte Prinz Alessandro. Bisher hatte sie geglaubt, auch ihm nicht gleichgültig zu sein. Ja, sie hatte gehofft, eines Tages seine Gemahlin zu werden. Doch gestern Abend hatte er ihr ohne Umschweife erklärt, ihre Freundschaft müsse nun leider ein Ende haben. Alessandro werde am kommenden Osterfest seine Verlobung mit Katinka von Wallenfels bekanntgeben. Sie sei die Frau, die seine Eltern für ihn ausgesucht hätten. Im September, an Katinkas achtzehntem Geburtstag, sollte die Hochzeit gefeiert werden. Dann war er gegangen. Einfach so.

 

Prinzessin Samira war untröstlich..Wie sollte sie nun weiterleben?

 

Wie alle Verliebten, die einmal enttäuscht worden sind, glaubte auch Samira, nun für immer allein zu sein. Eines Tages würde sie – verfemt und geächtet – als alte Jungfer irgendwo im Schloss ein winziges Zimmerchen bewohnen, widerwillig geduldet von der erlauchten Verwandtschaft. Niemand wollte mit einer sitzengebliebenen alten Schachtel etwas zu tun haben. Die musste doch froh sein, wenn sie überhaupt noch zu essen bekam – nutzlos und überflüssig, wie sie nun einmal geworden war …

 

Wieder rollten dicke Tränen über ihre Wangen. Dieser verwünschte Alessandro! Wie konnte er ihr das nur antun? Er würde bald mit dieser aufgeblasenen Katinka ein Leben wie Gott in Frankreich führen, und sie selbst …

 

Samira erschrak, als plötzlich die Türe ihres Mädchenzimmers geöffnet wurde. Hastig wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Nachtkleides übers Gesicht.  Das fehlte gerade noch, dass sie jemand von der Dienerschaft hier heulen sah! Sie drehte ihr Gesicht zum Fenster, so dass die Eintretende nur ihren Rücken sehen konnte.

 

„Prinzessin Samira – Eure Großmutter lässt Euch bitten, zu ihr zu kommen“ hörte sie die Stimme ihrer Gesellschafterin sagen.

 

„Jetzt sofort?“, fragte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte und ihre Stimme wieder einigermaßen normal klang.

 

„Sobald Ihr angekleidet seid“, antwortete Helene höflich. „Was möchtet Ihr heute anziehen?“ „Ach, irgendwas. Mir ist es egal“, gab Samira zur Antwort.

 

Die Gesellschafterin zuckte mit. keiner Wimper. Wortlos ging sie ins Ankleidezimmer. Wenig später kam sie mit einem Kleid aus königsblauem Samt mit weißen Spitzen an Ausschnitt, Ärmeln und Saum zurück. Die Taille zierte ein breiter, mit goldenen Tupfen bestickter Gürtel.

 

„Ist Euch das hier recht?“ fragte Helene freundlich. „Es bringt Eure Augen besonders gut zur Geltung!“

 

„Ich habe doch gesagt, es ist mir egal!“, antwortete Samira ungehalten. Doch dann fiel ihr ein, dass Helene schließlich nichts dafür konnte, dass sie heute hundsmiserabler Laune war. „Ist schon in Ordnung“ sagte sie versöhnlich.

 

Eine halbe Stunde später stieg sie die Treppen zum Gemach ihrer Großmutter Eleonora hinunter, die eine Zimmerflucht im unteren Bereich des Schlosses bewohnte. Die alte Dame war bereits Mitte siebzig, und das Treppensteigen fiel ihr schwer. Also hatte man sie hier unten einquartiert. Nichtsdestotrotz war ihr Geist rege wie eh und je, und noch immer war sie die graue Eminenz, die selbst ihre beiden Söhne und die drei Töchter gerne um Rat fragten.

 

Großmutter Eleonora saß – trotz der frühen Stunde – bereits fertig angekleidet und frisiert in ihrem Ohrensessel. Ihre Füße ruhten auf einem Schemel. Neben ihr, auf einem kleinen, rechteckigen Tischchen, stand eine halb leere Tasse Tee. Daneben lag ihr Handspiegel - ein Utensil, das sie immer bei sich trug, und das zu ihr gehörte wie ihre Augen und Ohren.

 

„Guten Morgen, Großmama“, sagte Samira höflich. „Du wolltest mich sprechen?“

 

„Guten Morgen, mein Kind. Bitte setz dich doch. Ich möchte heute mit dir zusammen frühstücken – wenn es dir recht ist.“

 

„Gerne, Großmama“. Samira freute sich über das Angebot. Gerade heute hatte sie nicht die geringste Lust, ihren Eltern, den beiden ununterbrochen schwatzenden Schwestern und dem ständig quengelnden dreijährigen Bruder beim Frühstück gegenüberzusitzen.

 

Wenig später brachte ein Diener einen Servierwagen, beladen mit allem, was die Küche zu bieten hatte. Tee, frische Brötchen, Marmelade, Wurst, Käse, Honig – sogar an frisches Obst, das Samira zum Frühstück besonders liebte, hatte ihre Großmutter gedacht.

 

Eine ganze Weile saßen die beiden ungleichen Frauen am Tisch und aßen schweigend. Endlich legte Großmama Eleonora ihre Serviette beiseite und lehnte sich auf dem unbequemen Stuhl mit der steifen Lehne zurück.

 

„Samira, ich habe dich gebeten, heute mit mir zu frühstücken, weil ich weiß, wie unglücklich du bist. Und weil ich dir zu deinem Geburtstag etwas schenken möchte.“

 

„Aber wie kannst du das wissen?“, fragte Samira überrascht. „Ich habe doch niemandem erzählt, dass ...“

 

„… Prinz Alessandro dir den Laufpass gegeben hat?“, unterbrach Großmama.

 

„Aber …“

 

„Ich weiß es mein Kind“, sagte ihre Großmutter bestimmt. „Und ich sage dir – auch wenn du es jetzt nicht glauben wirst –, es war gut so. Alessandro ist ein mieser Charakter.  Nein, widersprich mir nicht. Ich weiß es seit langem. Deshalb solltest du ihm keine Träne nachweinen. Er ist es nicht wert.“

 

„Aber …“

 

„Pass auf!“ Eleonora ließ ihre Enkelin nicht zu Wort kommen. „Ich werde dir jetzt etwas verraten, das außer mir niemand in diesem Schloss weiß. Und du musst mir versprechen, dass du dieses Geheimnis für dich behältst. Niemand darf davon erfahren, hörst du?“

 

„Großmama, ich verspreche es dir. Dein Geheimnis ist bei mir so sicher wie bei dir selbst“.

 

„Das weiß ich, Kind. Also, pass auf. – Du kennst meinen Spiegel hier?“

 

„Natürlich!“ Samira musste trotz ihres Kummers grinsen. „Wer kennt den nicht?“

 

„Das, mein Kind“, erklärte Großmama Eleonora, „ist nicht irgendein Spiegel. Er hat die Macht, dir das wahre Gesicht eines Menschen zu zeigen. Derjenige, der in den Spiegel hineinschaut, sieht nur das, was alle anderen auch sehen – sein Gesicht. Du aber wirst sein Inneres sehen können. Und damit immer wissen, wem du vertrauen kannst und wem nicht!.“

 

„Das heißt …“, meinte Samira zögernd, „wenn ich wissen will, was der Mensch, der vor mir steht für einen Charakter hat, muss ich ihn nur in den Spiegel sehen lassen?“

 

„Genauso ist es“, bestätigte ihre Großmutter. „Deshalb wusste ich auch, was dieser Prinz Alessandro für ein mieser Charakter ist. Er hatte nicht den Mut, zu dir und zu seiner Liebe zu stehen. Er ist ein Mensch, dem Gehorsam, Geld und Macht wichtiger sind als deine Liebe. Möge er mit Katinka glücklich werden – sie passt zu ihm. Sie ist genauso verlogen und rücksichtslos wie er. Du aber hast etwas Besseres verdient. Und auch wenn du es jetzt noch nicht glauben kannst – du wirst eines Tages einen anderen Mann kennenlernen. Einen, der deiner würdig ist und der deine Liebe erwidert.“

 

„Und der Spiegel?“, fragte Samira.

 

„Der Spiegel wird dir so lange treu dienen, wie du sein Geheimnis bewahrst. In dem Moment, wo du jemandem anders davon erzählst, wird er für dich nutzlos sein. Dann geht das Geheimnis an den nächsten über!“

 

„Aber… dann …“ Zögernd sah Samira zu ihrer geliebten Großmutter auf.

 

„Du hast Recht, Kind. Jetzt gehört das Geheimnis dir. Aber – ich brauche den Spiegel nicht mehr. Ich bin alt, und ich erkenne auch so den wahren Charakter eines Menschen. Nimm ihn – er ist mein Geschenk an dich. Und wenn du eines Tags so alt sein wirst wie ich, wirst du jemanden haben, an den du ihn weiterreichen kannst.“

 

„Großmama,  ich danke dir. Ich verspreche dir, dass ich dein Geschenk in Ehren halten und sein Geheimnis erst dann weitergeben werde, wenn ich jemanden gefunden habe, den ich für würdig halte.“

 

„So soll es sein, Kind! So, und nun lauf – auf dich warten heute bestimmt auch noch andere Überraschungen. Ich habe da so einiges läuten hören“ …  Eleonora zwinkerte ihrer Enkelin zu.

 

Samira umarmte ihre Großmama, nahm den Spiegel an sich und versteckte ihn in der tiefen Tasche ihres Samtkleides. Bevor sie hinausging, warf sie Eleonora noch eine Kusshand zu. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

 

Befriedigt ging Eleonora zurück zu ihrem Ohrensessel, setzte sich hinein und war wenige Minuten später eingeschlafen. Das fröhliche Gelächter, das aus dem Frühstückszimmer heraufdrang, in dem Samira die Glückwünsche und Geschenke ihrer Eltern und Geschwister entgegennahm, konnte sie nicht stören. Sie hatte ihre Mission erfüllt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© Christine Rieger

 

 

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Rina.P (Montag, 01 April 2019 17:01)

    Eine schöne Geschichte. So ein Spiegel ist schon hilfreich - aber bisschen Angst hätte ich schon, was er mir über die Leute in meinem Umfeld zeigen würde. Manchmal ist Unwissenheit einfacher.

    Aber sehr schön geschrieben. Hat mir gut gefallen.

    Liebe Grüsse

  • #2

    Nicole (Dienstag, 16 April 2019 09:06)

    Liebe Christine,
    ich bin ja froh, dass Samira an ihrem Geburtstag doch noch gelacht hat, denn an diesen Tagen sollte jeder fröhlich sein. Ich bin Geburtstags-Fan! :D
    Aber so einen Spiegel möchte ich ehrlich gesagt lieber nicht haben. Auch wenn ich dann vielleicht auf manche Menschen gar nicht erst herein gefallen wäre... Auf jeden Fall gefällt mir Deine Geschichte sehr gut!
    Liebe Grüße
    Nicole