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Der Weg aus dem Dunkel

Es ist entsetzlich kalt, und sie ist allein. Ein eisiger Wind dringt durch ihre Kleidung. Undurchdringliche Finsternis umgibt sie wie ein schwarzes Leichentuch. Der Weg, den sie geht, ist unsicher, als hätte sie Treibsand unter ihren Füßen. Wohin er führt, weiß sie nicht. Nur, dass sie ihn gehen muss.

 

Mühsam tastet Clarissa sich voran, setzt langsam einen Fuß vor den anderen. Nichts ist da, an dem sie sich orientieren oder festhalten könnte – nur diese pechschwarze Finsterns. Keine Straßenlaterne, kein Licht in den Fenstern. Schwere Wolken haben den Mond und die Sterne verschluckt. Hätte sie doch wenigstens eine Taschenlampe bei sich – oder ein Feuerzeug. Aber da ist – nichts.

 

Ihr ganzes Leben lang ist sie auf hell erleuchteten, sonnigen Wegen gegangen. Immer waren Menschen um sie – ihre Eltern, ihre Schwestern, ihr Mann, Nachbarn, Arbeitskollegen und Freunde. Sorgen und Krankheit waren ihr fern, Armut und Geldmangel kannte sie nur vom Hörensagen.

 

Doch jetzt ist niemand bei ihr. Keiner, der ihr die Hand reicht, um sie aus diesem schwarzen Gefängnis zu befreien …

 

Mit ausgestreckten Händen tappt sie unsicher vorwärts. Dornengestrüpp verfängt sich in ihrer Jacke, ihren Haaren. Äste schlagen ihr – vom Sturm gebeutelt – ins Gesicht. Geräusche, die sie nie gehört hat, peinigen ihre Ohren – Heulen, schrille Pfiffe, Krach wie von explodierenden Granaten … ein Inferno ohnegleichen.

 

Plötzlich glaubt sie, durch den höllischen Lärm eine Stimme zu hören, die ihren Namen ruft. Irritiert bleibt sie stehen, lauscht angestrengt. Da hört sie es wieder, diesmal ganz deutlich.

 

Clarissa!“ Und noch einmal: „Clarissa!“

 

„Hier bin ich“, ruft sie panisch. „Wer bist du? Bitte hilf mir!“

 

„Ich bin dein Gewissen!“ Die Stimme klingt hohl und blechern, wie die eines Automaten. „Ich bin gekommen, um dich daran zu erinnern, dass du deine Steuererklärung noch immer nicht erledigt hast. Deine Wohnung sieht aus wie ein Saustall – du hast schon lange nicht mehr saubergemacht. Und deine Eltern – sie warten seit Wochen auf deinen Besuch! Hast du sie vergessen?“

 

Entsetzt starrt Clarissa in die Dunkelheit. Ihre Mutter ist seit zwei Jahren tot, ihr Vater starb, als sie noch ein Kind war. Sicher, sie war lange nicht mehr auf dem Friedhof … aber das Grab ihrer Eltern liegt fünfhundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt ...

 

Noch ehe sie antworten oder sich rechtfertigen kann, meldet sich eine zweite Stimme, genauso eintönig wie die erste.

 

„Hallo, Clarissa! Ich bin es – der Hass! Der Hass deiner Schwester – denn du hast sie um ihr Erbe gebracht!“

 

„Das ist nicht wahr“, antwortet Clarissa. „Meine Mutter hat mir das Haus vermacht, weil Ramona sie zeitlebens belogen und betrogen hat. Sie hat Geld geklaut, um ihre Drogensucht zu finanzieren und ihre Männerbekanntschaften durchzufüttern. Sie hat gedroht, Mama umzubringen. Deshalb wurde sie enterbt, und ich bekam das Haus!“

 

„Ramona hasst dich trotzdem“, sagt die Stimme unerbittlich.

 

„Das ist ihr Problem“, antwortet Clarissa kalt.

 

Nun meldet sich eine dritte Stimme aus der Dunkelheit.

 

„Ich bin die Reue“, verkündet sie. „Du hättest Ramona eine Chance geben sollen. Sie ist deine Schwester – trotz allem! … Und deine Mutter? Wieso hast du sie nicht öfter besucht? Warum warst du oft so ungeduldig, wenn sie dich um etwas gebeten hat? Oder wenn sie sich nicht mehr an alles erinnern konnte …“

 

„Hört auf! Lasst mich in Ruhe!“, stöhnt Clarissa. „Verschwindet!“

 

Doch die Stimme der Reue wird von einer anderen Stimme abgelöst.

 

„Hallo, Clarissa – ich bin auch noch da! Ich bin die Sorge!“ Diese Stimme klingt höhnisch. „Wie willst du im nächsten Monat deine Ausgaben bestreiten? Du hast gerade noch fünfzehn Euro im Geldbeutel – was glaubst du wohl, wie lange die reichen werden? Dein Kühlschrank ist so gut wie leer. Im nächsten Monat wirst du kein Gehalt bekommen, weil dein Chef Konkurs angemeldet hat … Die Waschmaschine ist kaputt und die Rechnung für die Autoversicherung fällig …“

 

Clarissa presst die Hände auf die Ohren. Sie kann und will nichts mehr hören. Wenn doch nur Daniel hier wäre! Daniel, den sie hatte heiraten wollen … Sie hat ihn zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Damals trug er eine Fliegeruniform und war auf dem Weg nach Afghanistan. Drei Monate später erhielt sie die Nachricht, er sei mit seiner Maschine abgestürzt und werde vermisst. Seitdem – kein Lebenszeichen mehr. An seine Rückkehr glaubt sie nicht. Nicht nach so langer Zeit.

 

In die Stimmen der anderen mischen sich zwei weitere. Die Stimme der Trauer und die der Verzweiflung. Tränen laufen Clarissa übers Gesicht. Sie wischt sie mit dem Jackenärmel ab.

 

Der Wind wird stärker. Frierend zieht sie ihre Jacke noch fester um sich. Doch es nützt nichts. Die Kälte kriecht ihr in die Knochen, lässt sie zittern. Noch immer ist kein Ende dieses Weges in Sicht. Es ist überhaupt nichts in Sicht.

 

Ihre Beine sind schwer wie Blei. Sie kann kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Wieder stößt sie gegen ein Hindernis – irgend etwas Weiches. Den Fuß hochzuheben und darüber zu steigen, hat sie nicht mehr die Kraft. Sie fällt. Und bleibt einfach liegen.

 

Wozu sich noch plagen? Es ist ja doch alles sinnlos. Warum soll sie sich weiter durch diesen schwarzen Dschungel quälen? Wem liegt schon daran, ob sie weiterkämpft oder aufgibt? Ihr selbst ist es längst egal.

 

Wie lange sie auf dem kalten Boden gelegen ist, kann sie hinterher nicht mehr sagen. Doch irgend etwas zwingt sie dazu, sich wieder aufzurappeln. Mit zitternden Knien stemmt sie sich hoch. Kaum steht sie auf den Beinen, fangen die Stimmen wieder an, auf sie einzureden.

 

Mit einem Mal packt Clarissa blinde Wut. Sie wird sich von diesen Ungeheuern nicht unterkriegen lassen. Nein – noch haben sie nicht gewonnen!

 

„Haut ab!“, brüllt sie mit aller Kraft, die ihr noch zur Verfügung steht. „Lasst mich in Ruhe – ich will Euch nicht mehr hören!“

 

Plötzlich sieht sie durch die Finsternis ein winziges Licht leuchten. Ein Feuerzeug? Eine Taschenlampe? Die Lichtquelle kommt näher, wird größer. Die Stimmen aus der Finsternis brummeln und knurren. Aber sie werden leiser, je näher der Lichtstrahl kommt, verstummen schließlich ganz.

 

Der Lichtschein erleuchtet einen wunderschönen Garten mit vielen Blumen. Auf einem kleinen Teich in der Mitte tummelt sich ein Entenpärchen mit mehreren Jungen. Bunte Schmetterlinge, Bienen und Hummeln schwirren um die Blüten. Der Himmel ist strahlend blau, Vogelgezwitscher erfüllt die Luft.

 

„Hallo, Clarissa!“ Die Stimme, die sie dieses Mal hört, ist freundlich, ja geradezu fröhlich. Unsicher schaut Clarissa sich um. Doch obwohl es nun hell ist, kann sie niemanden entdecken.

 

„Wer bist du?“, fragt Clarissa scheu.

 

„Mein Name ist ‚Zuversicht’, antwortet die Stimme. „Und hinter mir stehen meine Schwestern. Sie heißen ‚Selbstbewusstsein’, ‚Kraft’ und ‚Hoffnung’. Komm!“

 

Der Lichtschein entfernt sich langsam in die Richtung, aus der er gekommen ist. Clarissa beeilt sich, ihm zu folgen – in ein neues Leben.

 
 

 

© Christine Rieger / 2015

 

 

 

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