„Du, Papa, kann ich nach dem Essen Bettina zu dir raufschicken?“ Geschickt wickelte Monika eine Ladung Spaghetti um ihre Gabel, streifte die tropfende Tomatensoße am Tellerrand ab, bugsierte die Portion in den Mund und kaute genüsslich. „Ich möchte nachher endlich die Fenster putzen, und ich habe immer Angst, dass Tina mal den Putzeimer umwirft oder aufs Fensterbrett steigt.“
„Tu ich doch gar nicht“, protestierte die Fünfjährige energisch. „Ich weiß doch, dass ich das nicht darf!“
„Ja doch, Schätzchen. Aber weißt du, ich kann mich nicht mit dir unterhalten, wenn ich arbeite, und dann langweilst du dich...“
„Weißt du was, Tinchen? Wir könnten doch mal wieder in den Wald gehen! Es hat so viel geregnet in letzter Zeit – bestimmt finden wir ein paar Pilze“, schlug Friedrich Hartmann vor.
Opa Friedrich, Monikas Vater, war nach dem plötzlichen Tod seiner Frau vor sechs Monaten zu seiner Tochter und ihrer Familie in die ausgebaute Dachgeschosswohnung gezogen. Hier war er wenigstens nicht ständig allein, und er machte sich auf vielerlei Weise nützlich. Er reparierte defekte Küchengeräte, werkelte im Garten herum, mähte den Rasen, kochte, ging einkaufen … schon nach kurzer Zeit war er für den Haushalt seiner berufstätigen Tochter unentbehrlich geworden. Seine fünfjährige Enkelin wurde zu seinem Lebensinhalt, und er verzog sie nach Strich und Faden – sehr zum Leidwesen ihrer Mutter.
„Au fein, Opi“, strahlte Bettina. „Aber nur, wenn du mich nicht mehr ‚Tinchen’ nennst. Das mag ich gar nicht! Tinchen ist was für kleine Kinder – und ich bin doch jetzt schon sooooo groß ...“
„Das sehe ich ein“, lachte Opa Friedrich. „Darf ich dich dann ‚Tina’ nennen, so wie deine Mama es tut?“
„Ja, das darfst du, das gefällt mir viel besser. Gehen wir jetzt gleich?“
„Sobald du angezogen bist!“ Opa Friedrich stellte seinen leergegessenen Teller in die Spülmaschine.
Eine Viertelstunde später brachen Opa und Enkelin, ausgerüstet mit Anoraks und festen Schuhen, zur Pilzsuche auf. Monika konnte sich beruhigt an die Arbeit machen.
Der Stadtwald, der nach wenigen hundert Metern in einen ausgedehnten Forst überging, war nur ein paar Minuten entfernt. Tina und ihr Opa durchstreiften ihn kreuz und quer. Nach zwei Stunden war Opas Spankorb gut gefüllt mit Pfifferlingen, Steinpilzen, Maronen und Sandpilzen. Auch einige schöne große Parasolpilze, die fast wie Schnitzel schmeckten, wenn man sie in Ei und Semmelbröseln wendete und dann in der Pfanne briet, waren darunter.
„So, jetzt machen wir mal Rast – ich habe Durst“, verkündete Opa Friedrich. Er holte aus seinem Rucksack ein Thermokissen, legte es auf einen umgestürzten Baumstamm und stellte daneben zwei Wasserflaschen. Eine Packung Kekse, Salzstangen und eine halbe Tafel Schokolade folgten.
„Du, Opi – warum werden eigentlich im Herbst die Blätter an den Bäumen so schön bunt?“, fragte Tina plötzlich.
Friedrich Hartmann überlegte ein paar Sekunden, bevor er antwortete.
„Das machen die Herbstwichtel“, sagte er schließlich. Einer Fünfjährigen die biologischen Zusammenhänge erklären zu wollen, war wenig sinnvoll. „Es ist eine sehr schöne Geschichte. Soll ich sie dir erzählen?“
„Au ja, bitte, Opi!“ Tina liebte die Märchen, die ihr Großvater ihr erzählte. Viele davon waren selbst erfunden.
„Also pass auf. Es gab einmal eine Zeit, da wurden die Menschen, wenn der Sommer vorüber ging, sehr sehr traurig. Sie weinten bitterlich, weil die ganzen Blätter von den Bäumen fielen, und nur noch kahle, nackte Äste übrig blieben, wenn es stürmte und regnete.
Sie liebten den Frühling, denn da wurden die Bäume wieder grün, und das bedeutete das Ende des langen Winters. Sie liebten auch den Sommer – wenn es heiß war, man barfuß laufen und im Fluss baden konnte.
Ja, sie mochten sogar den Winter. Wenn der Schnee in dicken Flocken vom Himmel fiel, wirkte die ganze Welt wie verzaubert. Kam man dann von draußen ins Haus, war es mollig warm, es gab heiße Schokolade und Lebkuchen. Ja, auch der Winter war schön auf seine Art. Nur der Herbst war eine entsetzliche Jahreszeit!
Jonathan, der Älteste im Wichtelreich , hörte die Menschen jammern und klagen und sann auf Abhilfe. Sein Stellvertreter Oskar, der Malerwichtel, hatte schließlich den rettenden Einfall.
Er ging in den Holzschuppen, wo er seine Farben aufbewahrte, und brachte alles, was er dort an Farbtöpfen, Tuben und Tiegeln fand, zu seinem Chef.
„Ich schlage vor, wir bemalen immer im Herbst, wenn die Leute anfangen, traurig zu werden, die Blätter an den Bäumen. Dann haben sie auch in dieser Jahreszeit etwas, an dem sie sich freuen können!“
Jonathan fand die Idee großartig. Oskar war allerdings inzwischen zu alt, um auf Bäumen herumzuklettern. Aber es gab im Wichtelreich viele jüngere Zwerglein.
Die besten Kletterer unter ihnen bekamen jeder einen Eimer mit Farbe und mehrere Pinsel in die Hand gedrückt und machten sich an die Arbeit. Schon nach einigen Tagen sahen die Menschen die Veränderung.
Die Blätter an Bäumen und Sträuchern leuchteten plötzlich in vielen Farben. Tiefrot, hellbraun, sonnengelb, orange. Manche wurden auch kunterbunt angestrichen – wenn die Malerbrigade besonders gut drauf war. Zwischendrin blieben auch mal Blätter grün, von den Wichteln übersehen, weil es gar so viele waren.
Tina hatte gespannt zugehört. Doch plötzlich fragte sie: „Und wieso gibt es keine blauen Blätter an den Bäumen?“
„Ganz einfach“, gab Opa Friedrich zur Antwort. „Oskar, der Malerwichtel, hatte keine blaue Farbe mehr übrig – er hatte den ganzen Eimer für den Himmel verbraucht!“
„Hmmm. Und jetzt sind die Leute nicht mehr traurig, wenn der Sommer vorbei ist?“
„Ein paar schon. Es wird immer Menschen geben, die mit nichts zufrieden sind. Aber die meisten gehen im Herbst wandern, genießen die letzten Sonnenstrahlen und erfreuen sich an den bunten Blättern. So wie du und ich!“
„Aber … Opi – die ganze Arbeit von den Wichteln ist doch eigentlich für die Katz“, meinte Tina altklug. „Schließlich dauert es nur ein paar Wochen, denn wenn der erste Frost kommt, dann fallen die Blätter alle runter!“
„Ja, das stimmt“, bestätigte Friedrich Hartmann lachend. „Es ist genauso sinnlos wie die Fensterputzerei deiner Mami. Beim nächsten Regen werden sie ja doch wieder dreckig!“
© Christine Rieger
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