Sie haben sich lange nicht gesehen. Immer wieder waren andere Termine ihren Treffen im Weg. Aber nun haben sie sich – WhatsApp sei Dank – für heute Nachmittag verabredet. Es gehen Gerüchte um, dass ab der nächsten Woche wieder eine Ausgangssperre ausgerufen wird. So wie im Frühling, als man sich nur innerhalb eines Radius von wenigen Kilometern um seine Wohnung bewegen durfte. Und auch das höchstens zu zweit.
Ingeborg ist zuerst da. Sie ist die älteste der drei Schwestern – phlegmatisch, desinteressiert, ruhebedürftig. Hauptsache, sie hat zu essen und zu trinken und muss sich möglichst wenig bewegen. Man sieht es ihr an. Nicht nur ihrer fülligen Figur, sondern auch ihrer Kleidung. Weiter Rock mit Gummibund, ausgeleiertes T-Shirt, Haare, die lange keinen Friseur gesehen haben. Die Jesuslatschen an den Füßen sind ausgetreten; das einzige, was zu dieser Person nicht ganz passt, ist die teure goldene Uhr. Die trägt sie allerdings selten und auch heute nur, weil sie ein Geschenk ihrer Schwester Coco zu ihrem letzten Geburtstag war.
Die Parkbank, auf der Ingeborg sich niedergelassen hat, ist angenehm warm. Erstaunlich! Immerhin ist heute der erste November, und da hat es gefälligst kalt, windig und regnerisch zu sein. Doch in diesem seltsamen Jahr ist gar nichts normal. Nicht einmal das Wetter.
„Hallo, Ingeborg, da bist du ja! Schön, dich zu sehen!“, Griseldis-Indra, die einzige der drei Schwestern, die aus unerfindlichen Gründen zwei Vornamen hat, lässt sich neben ihre Schwester auf die Bank fallen. Mit gebührendem Abstand, wie es sich neuerdings gehört. Sie holt ein Papiertaschentuch aus ihrer kunterbunten Jacke, putzt sich ausgiebig die Nase und verstaut das Taschentuch dann sorgfältig in einem mitgebrachten Plastikbeutel.
„Gut siehst du aus, Grit. Wie machst du das nur, dass du niemals zunimmst?“
Dazu muss man wohl erklären, dass Griseldis-Indra ihren Namen hasst wie die Pest. Noch mehr aber ihre Mutter, die ihn ihr verpasst und dafür gesorgt hat, dass sie schon in der Schule zum Gespött ihrer Klassenkameradinnen wurde. Mit acht Jahren verbat sie es sich, mit diesem Namen gerufen zu werden, stellte sich einfach taub, wenn es doch jemand tat und bestand darauf, ‚Grit’ genannt zu werden. Später ließ sie den Rufnamen auch in ihren Ausweis eintragen. Ihren Geburtsnamen benutzte sie nie mehr. Es sei denn für amtliche Formulare.
„Ich gehe viel spazieren“, beantwortet Grit die Frage ihrer Schwester. „Sport treibe ich so gut wie gar nicht. Wegen meiner Arthrose kann ich nicht mehr tanzen. Wenn ich es doch mal tue, büße ich tagelang dafür. Schwimmen geht im Moment auch nur unter erschwerten Bedingungen. Schon allein die Tatsache, dass man seine Eintrittskarte im Internet ... Da kommt Coco“, unterbricht sie sich selbst.
Coco, die Jüngste, ist, im Gegensatz zu ihren Schwestern, eine außergewöhnliche Erscheinung. Fast einen Meter achtzig groß, klapperdürr, ellenlange Beine. Ihre Füße stecken in lila Sandaletten mit gemeingefährlich hohen Absätzen, auf denen sie gekonnt über den kiesbestreuten Weg stöckelt. Sie trägt ein überraschend biederes silbergraues Strickkleid, dessen Saum auf halber Höhe der Waden endet. Erst als sie sich umdreht, um einem Mann zuzuwinken, der sie offenbar hierher begleitet hat, kann man sehen, dass das Rückenteil bis zur Taille ausgeschnitten ist.
„Hallo, ihr beiden“, begrüßt sie ihre Schwestern. „Toll, dass es endlich mit unserem Date geklappt hat. Ich habe euch ja ewig nicht gesehen!“ Sie wirft die rabenschwarzen, lila gesträhnten Haare in den Nacken und tupft sich mit einem Spitzentaschentuch, das sie aus einem perlenbestickten Täschchen zieht, den Schweiß von der Stirn.
„Wir dich dafür um so öfter. Jeden Tag bist du im Fernsehen. Egal in welchem Sender, egal zu welcher Uhrzeit – man kommt dir fast nicht mehr aus. Du bist berühmt geworden!“ Ingeborg kann nicht verhindern, dass etwas wie Neid aus ihrer Stimme klingt.
„Eher berüchtigt“, bemerkt Coco trocken.
„Macht dir das denn keinen Spaß?“, fragt Grit ungläubig.
„Spaß? Nein, ganz bestimmt nicht“, antwortet Coco verbittert. „Meine früheren Freunde schauen auf den Boden, wenn sie mir begegnen und tun, als hätten sie mich nicht gesehen. Wildfremde, die mich erkennen, wechseln die Straßenseite. Kinder rennen schreiend davon, weil ihre Eltern ihnen erzählt haben, ich sei eine Hexe, und wenn sie mir zu nahe kommen, werden sie krank und müssen sterben. Die einzigen, die mich ständig verfolgen, sind Fernsehreporter und Zeitungsjournalisten. Und das soll Spaß machen?“
„Aber ich dachte ...“ Ungläubig starrt Grit ihre Schwester an.
„Du dachtest, Ingeborg und du, ihr wärt abgemeldet. Du dachtest, ich hätte das schönste Leben. Ich würde einen Haufen Geld verdienen und wäre der glücklichste Mensch der Welt, habe ich Recht?“ Grit sagt nichts, aber Coco hat auch keine Antwort erwartet. „Habt ihr den Mann vorhin gesehen, mit dem ich gekommen bin? Ihr habt Sicherheit gedacht, der ist meine neue Liebe, oder nicht? Nein, ist er nicht. Sein Name ist Chris und er ist mein Bodyguard. Einer von dreien, die sich abwechseln. Ich stehe seit Monaten unter Polizeischutz, rund um die Uhr. Ich habe nämlich schon Morddrohungen bekommen. Ein beneidenswertes Leben, findet ihr nicht?“
„Morddrohungen? Ja um Himmels willen, von wem denn?“, fragt Grit schockiert.
„Von Menschen, die Angst vor mir haben. Angst, dass sie krank werden, wenn sie mir zu nahe kommen. Sie machen mich dafür verantwortlich, dass ihr Leben sich von Grund auf verändert hat. Dass sie nicht mehr spontan ins Restaurant oder ins Café gehen können. Dass man nicht mehr in Urlaub fahren oder ein großes Fest feiern darf. Dass sie keinen Besuch empfangen und sich nicht mit Freunden treffen können. Diese Leute halten mich allen Ernstes für eine Hexe. Irgend jemand, der es nicht ertragen kann, dass ich berühmt geworden bin, hat dieses Gerücht in die Welt gesetzt. Seitdem habe ich keine Ruhe mehr.“
„Das ist ja furchtbar!“
„Die Leute wissen nicht, dass meine Berühmtheit nur von kurzer Dauer sein wird. Ein paar Monate noch, vielleicht ein Jahr, oder eineinhalb“, fährt Coco fort, ohne den Einwand zu beachten. „Wenn mein Vertrag ausläuft, verschwinde ich in der Versenkung. Und dann werden ihr beide, Ingeborg und Griseldis-Indra, wieder die Stars sein. Nach mir kräht dann kein Hahn mehr. Es sei denn, meine Auftraggeber starten eine neue Kampagne ...“
„Nenn mich nicht Griseldis-Indra. Du weißt, ich hasse diesen Namen!“
„Unsere Mutter hat sich mit Sicherheit etwas dabei gedacht, als sie ihn dir gab“, meint Coco. „Aber ich muss nun leider gehen. In zwei Stunden habe ich einen neuen Fernsehauftritt und muss vorher noch in die Maske. War schön, euch wieder mal zu sehen. Bis bald!“
Sie steht auf, nickt ihren Schwestern zum Abschied zu und stöckelt in die Richtung davon, aus der sie vorhin gekommen ist. Ihre Haare wehen in dem leichten Wind, der inzwischen aufgekommen ist, wie eine Fahne hinter ihr her. Fünfzig Meter weiter taucht der Bodyguard namens Chris hinter einer Baumgruppe auf und folgt Coco mit gebührendem Abstand.
„Immer noch eineinhalb Jahre“, seufzt Ingeborg, nachdem ihre Schwester ihren Blicken entschwunden ist.
„Die werden lang werden!“, stimmt Griseldis-Indra zu. „Aber danach ... danach stehen wir beide wieder im Rampenlicht!“
© Christine Rieger / 2020
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Inga Scheer-Ruhland (Sonntag, 08 November 2020 21:55)
Klasse, liebe Christine! �
Christine Rieger (Montag, 09 November 2020 10:40)
Herzlichen Dank, liebe Inga - für Deinen Besuch und Dein Lob! Du machst mich ganz verlegen ...
Liebe Grüße
Christine