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Trostlos ...

 

 

Wer mich kennt, weiß, dass es mir nur selten die Sprache verschlägt. Gestern ist mir nun genau das passiert. Ich war fassungslos. Sprachlos. Entsetzt.

 

Manch einer wird den Anlass lächerlich finden. Sei’s drum – auch ich kann nicht immer witzig sein. Deshalb wird dieser Eintrag in mein Tagebuch auch nicht so amüsant werden. Aber – von Anfang an.

 

Mein Brillengestell war seit fast einem halben Jahr rettungslos verbogen. In den letzten beiden Wochen musste ich schon meine Reservebrille aus der Versenkung holen. Andernfalls hätte ich irgendwann angefangen zu schielen. Warum ich nicht längst zum Optiker gefahren bin? Nun ja – auf gut Fränkisch: miich hod‘s grausd. Und das mit Recht!

 

Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal derart widerwillig in unser Einkaufszentrum gehen würde, in dem der Optiker seine Filiale hat. Sonst waren mein Mann und ich ein-oder zweimal die Woche dort. Wenn das Wetter zu garstig war, um draußen herumzulaufen. Oder wenn keiner von uns Lust hatte, sich zum Kochen in die Küche zu bequemen. Ein bisschen gogern, Klamotten oder Schuhe probieren, (wobei ab und zu auch mal ein T-Shirt oder eine Hose an meinen Fingern kleben blieb); beim Italiener oder beim Chinesen essen gehen; einen Cappuccino trinken, Leute beobachten ... es hat einfach Spaß gemacht.

 

Dieses harmlose Vergnügen hat uns Corona zunichte gemacht. Besser gesagt: die Anordnungen der Regierung. Mit Maske durch Geschäfte tigern und Klamotten anprobieren? Da sieht man doch mit jedem Teil aus wie die Angst! Und nur um in der Drogerie Shampoo oder Duschbad zu kaufen, fährt man nicht dorthin. Das gibt es beim Discounter oder im Supermarkt um die Ecke auch.

 

Nun gut, gestern war ein ‚Besuch’ im Einkaufszentrum unumgänglich. Das Parkhaus, sonst gut besetzt, war kaum frequentiert. Ebenso die Ladenstraßen. Wo sich früher auch an ganz normalen Wochentagen viele Menschen tummelten – gähnende Leere. Die Einbahnstraßen-Markierungen auf dem Boden: überflüssig wie ein Blinddarm. Man hätte ohne Weiteres zehn Meter Abstand von anderen Kunden halten können.

 

Während ich darauf wartete, dass der Optiker meine Gläser in ein neues Brillengestell hinein bastelte (mein altes zerfiel vor seinen Augen in seine einzelnen Bestandteile), vertrieb mein Mann sich die Zeit im Untergeschoss. Was er hernach berichtete, war deprimierend.

 

In Vor-Corona-Zeiten hatte man oft genug Probleme, einen Sitzplatz zu bekommen, und die Schlangen an den Essensausgaben zogen sich endlos hin. Gestern standen die Mitarbeiter der zahlreichen Imbissbuden sich hinter ihrer Theke die Beine in den Bauch. Die wenigen Menschen, die sich da hinunter verirrten, konnte man zählen. Und die hetzten – genau wie ich – maskenverhüllt und hektisch durch die Gänge, um nur ja auf dem schnellsten Weg wieder hinauszukommen.

 

Ich frage mich nun dauernd: Wie soll das weitergehen? Wie viele von den Geschäften werden nach Corona überhaupt wieder öffnen – und wie viele Eisentore für immer geschlossen bleiben?

 

Wird es irgendwann wieder möglich sein, unbeschwert ein Einkaufszentrum zu besuchen? Ohne Terminvereinbarung und ohne Maske von einem Geschäft ins nächste zu schlendern? Ohne an der Tür einen Impfausweis vorzeigen oder vor den Augen eines Mitarbeiters einen Coronatest vornehmen zu müssen? Genau wie als Kind, wenn die Mutter kontrolliert hat, ob man sich auch den Hals und die Füße gewaschen hat?

 

Oder darf man zukünftig nur noch eintreten, wenn der Fieber-Mess-Automat ‚grün’ anzeigt und man am Ladeneingang mit dem Handy den QR-Code gescannt hat? Damit auf die Minute genau kontrolliert werden kann, wer wann wie lange in welchem Geschäft war? Wird man nach jedem Einkaufsbummel (so man unter solchen Umständen überhaupt Lust dazu hat) acht oder zehn Tage bibbern müssen? Es könnte schließlich sein, dass das Gesundheitsamt anruft und einen in Quarantäne sperrt, weil in der vierten Etage des Kaufhauses jemand um dieselbe Uhrzeit zwei T-Shirts probiert hat und die betreffende Person anschließend positiv getestet worden ist. Dabei ist man dem Betreffenden überhaupt nicht begegnet, weil man im Untergeschoss nur eine Rolle Nähgarn und einen neuen Suppentopf gekauft hat!

 

Also, die Aussicht auf so eine Zukunft ist nicht nur trostlos – sie ist beängstigend. Da bleibe ich dann doch lieber zu Hause und gehe allenfalls im Wald spazieren oder Rad fahren. Vorausgesetzt, nicht auch der wird eingezäunt, und an jedem Waldweg steht ein Wachtposten und kontrolliert den Impfpass ...

 

 

 

 

 

© Christine Rieger / 2021

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Inga Scheer (Mittwoch, 21 April 2021 21:28)

    Liebe Christine, Du schaffst es immer wieder, auch alltagliche Begebenheiten spannend und unterhaltsam zu schildern. Brillant!

  • #2

    Christine Rieger (Mittwoch, 21 April 2021 22:13)

    Liebe Inga,
    herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Ich versuche auf diese Art, mit dieser schwierigen Zeit irgendwie umzugehen ...